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Von Chaos und Trauer zur Dankbarkeit: Notfallseelsorger im Einsatz

Wenn geliebte Menschen sterben, bricht die gewohnte Welt plötzlich zusammen: Zwischen Schock und Trauer sind Verwandte und Freunde oft hilflos. Dann sind Stephan Koch und Ulrich Slatosch da, solange sie gebraucht werden – als Notfallseelsorger im Bistum Essen.

Notfallseelsorger Stephan Koch  I  Foto: Achim Pohl, Bistum Essen
Notfallseelsorger Stephan Koch I Foto: Achim Pohl, Bistum Essen

Die Haustür eines Mehrfamilienhauses steht offen, Stephan Koch geht in den Flur, einige Stockwerke nach oben. Auf der Treppe kommt ihm der Notarzt entgegen, ist mit den Rettungssanitätern auf dem Weg nach draußen. Sie wechseln ein paar Worte, dann geht Koch weiter nach oben. Als er vor der Wohnungstür ankommt, hört er zwei Polizisten reden, die Nachbarn von gegenüber stehen im Flur und sprechen aufgeregt durcheinander. Im engen Flur der Drei-Zimmer-Wohnung liegt ein Mann auf dem Boden, er ist tot, wahrscheinlich an einem Herzinfarkt gestorben. Ganz plötzlich, ist einfach umgefallen. Vorsichtig geht Stephan Koch an der Leiche vorbei bis zur Küche. Auf einem Stuhl sitzt die Frau des Toten. Koch setzt sich zu ihr an den Tisch, die Polizisten verabschieden sich, schließen die Tür. Und dann ist es plötzlich ganz still. Sorgsam und mit viel Zeit beginnt jetzt die Arbeit des Notfallseelsorgers.

„Wir sind da, wenn die Menschen wieder eine Spur brauchen"

So ähnlich wie diese sind die Situationen, in die der 49-Jährige hineinkommt, wenn die Feuerwehr ihn ruft. In fremde Wohnungen und Häuser, zu Menschen, die sich in einem Schock befinden, wenn geliebte Angehörige sterben. Die plötzlich nicht mehr wissen, was Realität ist und was nicht, ob sie weinen, schreien oder schweigen sollen. „Wir sind da, wenn diese Menschen wieder eine Spur brauchen, wir hören ihnen einfach zu und schauen, wie wir helfen können: In diesem Moment, am nächsten Tag oder auch in der Zeit danach“, sagt Stephan Koch. „Wir sind erstmal absichtslos da und halten diese Trauer und den Schock mit aus. Wir bieten an, sich gemeinsam mit uns von dem Toten zu verabschieden, entweder mit ganz einfachen Ritualen wie einer Kerze anzünden oder einfach einer letzten Berührung.“ Seit vier Jahren ist er Beauftragter für die Notfallseelsorge im Bistum Essen, organisiert und koordiniert diese Arbeit, ist aber auch selbst vor Ort, wenn Menschen seine Hilfe brauchen.
Ulrich Slatosch hatte seinen letzten Einsatz vor einer Woche: ein Familienvater war gestorben, zuhause traf der Notfallseelsorger auf dessen Frau und die Kinder. Seit über 20 Jahren macht der 62-Jährige diesen Job, er ist 1999 der erste Diakon im Bistum Essen, der als spezieller Notfallseelsorger eingesetzt wird: Nach einem Brand, Unfall, Suizid oder natürlichem Tod, meistens in privaten Wohnhäusern.

Auch Rettungskräfte müssen ihre täglichen Einsätze verarbeiten

Notfallseelsorger Ulrich Slatosch  I  Foto:  Achim Pohl, Bistum Essen
Notfallseelsorger Ulrich Slatosch I Foto: Achim Pohl, Bistum Essen

Doch nicht nur Angehörige vor Ort brauchen seine Hilfe, auch die Rettungskräfte müssen die Erlebnisse ihrer täglichen Einsätze verarbeiten, vor allem nach tödlichen Bränden oder schweren Verkehrsunfällen. Ulrich Slatosch war selbst Feuerwehrmann, kann die Bilder und Gedanken in den Köpfen seiner Kollegen verstehen – das helfe beiden Seiten. „Ich habe in meinem Leben über 500 Menschen reanimiert, ich weiß, was es heißt, Menschen wiederzubeleben vom Säugling bis zum Senior“, sagt der Diözesanbeauftragte für Seelsorge in Feuerwehr und Rettungsdienst. „Ich spreche mit den Kollegen einfach auf einer Ebene, sie müssen mir oft nicht viel erklären, da reicht dann schon die Art des Einsatzes. Ich weiß, wie es sich anfühlt, nach einem Brand Leichen zu finden oder auf allen vieren durch ein verrauchtes Kinderzimmer zu kriechen.“ Bei schweren Unfällen begleitet der Notfallseelsorger seine Kollegen bis zur Unfallstelle, bereitet sie auf das Szenario vor und hilft, Bilder zu verarbeiten. Gerade diese menschlichen Grenzerfahrungen schaffen ein besonders Teamgefühl, eine ganz andere Verbundenheit, sagt Slatosch.


Auch die eigene Seele zu schützen, gehört für die Seelsorger zu ihrem Job dazu. Vor allem Notfälle mit Kindern oder schwere Motorradunfälle erzeugen oft Bilder, die auch die beiden so schnell nicht vergessen können. Sie haben sich ihre eigenen kurzen Rituale vor und nach den Einsätzen angeeignet: Ein kleines Stoßgebet, ein Spaziergang, Eindrücke sacken lassen und loslassen, den Kopf frei kriegen und offen sein für eine immer wieder neue Situation, die nie planbar ist. Diese Psychohygiene zu pflegen ist wichtig, das wissen beide. Heute ist die psychosoziale Unterstützung Teil der Ausbildung von Rettungskräften und Seelsorgern, gehört zum Gesundheits- und Arbeitsschutz.

„Wir geben eine gute Visitenkarte für die Kirche ab“

Seit Beginn der Corona-Krise waren die beiden Seelsorger weiterhin im Einsatz, haben die Menschen in Not mit Handschuhen und Masken besucht. Für Stephan Koch eine ungewohnte Situation: „Das ist schon seltsam, durch die Masken geht viel Mimik und Gestik verloren, die in so einer Situation hilfreich sein kann. Ich muss ganz anders auf die Menschen eingehen, anders kommunizieren und sie auch lesen und darauf reagieren.“ Er ist aber auch überzeugt: „Anders geht es nicht, unsere Arbeit lebt von der Hilfe vor Ort, das können wir in solchen Extremsituationen am Telefon nur schwer leisten.“


„Ich bin der ‚Ich bin da‘“: ein Bibelzitat, das die beiden katholischen Seelsorger sich zum Motto gemacht haben. Menschen in Trauer und Schock zu helfen, völlig unabhängig von Glauben, Herkunft und Kultur. Dass sie ihre Arbeit im Auftrag der Kirche machen, sei den meisten Menschen gar nicht bewusst. „Viele nehmen nur die negativen Schlagzeilen wahr und nicht, was Kirche noch leisten kann“, sagt Ulrich Slatosch. Seelsorge werde oft mit aufgezwängten Ritualen und Gebeten verbunden, anstatt mit gut ausgebildeten Spezialisten, die auch Psychologie beherrschen. Vor einigen Wochen habe er einen Mann besucht, der seinen Termin zum Kirchenaustritt schon festgemacht hatte. In der Nacht davor starb dann völlig unerwartet seine Mutter, Ulrich Slatosch betreute den jungen Mann nach diesem Schock einige Stunden. Zum Abschied sprachen beide dann nochmal über die Notfallseelsorge im Bistum Essen. Nach kurzem Überlegen sagte der Mann: „Ich glaube, ich lasse den Termin zum Kirchenaustritt ausfallen.“


Wenn die beiden Seelsorger nach zwei oder drei Stunden die fremden Türen wieder hinter sich schließen, nehmen sie vor allem Dankbarkeit mit. „Wir erleben, dass sich durch unsere Hilfe was bewegt, vor allem für den Moment, vielleicht auch für morgen oder im besten Fall auch länger“, erzählt Stephan Koch. „Wenn wir kommen, ist die Situation oft chaotisch, traurig und hilflos. Verabschiedet werden wir meistens freundlich mit einem kleinen Lächeln.“ Der Notfallseelsorger ist sich sicher: „Wir geben eine gute Visitenkarte für die Kirche ab.“ Denn wenn die Tür ins Schloss fällt, wissen auch die Menschen, die mit Kirche nie viel zu tun hatten: „Hier war gerade jemand für mich da und ich glaube, das war gut so.“

 

Text: Lisa Myland  I  Bistum Essen

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